Goethe und Marianne Willemer vis-à-vis

„Denn sie stahl den Rest der Liebe, der mir noch im Herzen blieb“

Dienstag, 24. September 2014, 19 Uhr
Historische Villa Metzler des Museums Angewandte Kunst, Schaumainkai 15, Frankfurt am Main


Vortrag mit musikalischer Umrahmung
anlässlich der 200sten Wiederkehr der Begegnung Goethes und Marianne Willemers im Rahmen der Goethe-Festwoche 2014
mit Dr. Jasmin Behrouzi-Rühl und Heike Matthiesen (Gitarre)

Beginn mit Gitarre: „Reich mir die Hand, mein Leben..“: Joh. Kaspar Mertz: Fantaisie über Don Juan op.28 (Auszug), 3 Min

Liebe Damen und Herren,

ich begrüße Sie ganz herzlich in der Historischen Villa Metzler des Museums Angewandte Kunst! Hier, an diesem Ort, den Johann Wolfgang Goethe vor 200 Jahren besucht hat, möchten wir unseren Beitrag zur diesjährigen Goethe-Festwoche leisten!, denn gegenüber auf der anderen Mainseite hat er – ein Jahr darauf – am West-östlichen Divan gedichtet.

„Wir“, das ist der Kunstgewerbeverein, der seit 2008 die hiesigen Räumlichkeiten mit seiner Tochtergesellschaft betreuen darf; mit meiner Wenigkeit: Ich leite die Geschäftsstelle des Kunstgewerbevereins, betreue die Mitglieder und das Kulturprogramm und mache manchmal auch selbst welches J.

Und zum anderen: Heike Matthiesen! Sie ist Konzert-Gitarristin, lebt in Frankfurt, tritt international auf und hat eine wunderbare Ausbildung, unter anderem bei Pepe Romero absolviert. Sie befasst sich seit langem unter anderem mit historischen Transkriptionen und überhaupt mit den großen und kleinen Schätzen, die an Gitarrennoten zu heben sind.

Die heutige Veranstaltung soll ja auch ein bißchen eine Feier sein, deshalb gibt es Musik dazu, denn es jährt sich heuer zum 200sten Mal der Jahrestag der Begegnung zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Marianne Willemer.

Diesem Zusammentreffen und der Poesie, die ihm entsprungen ist, ist die aktuelle Ausstellung im Goethehaus gewidmet unter dem Titel „Marianne von Willemer und Goethe im Spiegel des West-Östlichen Divans“. Den Katalog der Ausstellung können Sie hier heute erwerben!

In der Ausstellung ist, neben 199 anderen Exponaten, auch Mariannes Gitarre zu sehen, die eigens für diesen Anlass restauriert worden ist. Bespielbar ist sie leider nicht mehr.

Umso schöner, dass wir heute Heike Matthiesen bei uns haben!

Gleichwohl müssen Sie jetzt ersteinmal eine längere Durststrecke ohne Musik überstehen, denn es soll zunächst einiges gesagt werden!

Zur Organisation: Nach etwa 45 Minuten wird es eine kleine Pause geben, in der Sie sich mit Wein und französischem Tomatenbrot aus der Wetterau stärken können und das Haus ein wenig genießen.

Sie befinden sich hier in einem besonderen Haus, das ist unschwer zu er­kennen. Ich höre nicht auf, mich darüber zu freuen, dass wir uns hier ver­sammeln können und dass die Räume jetzt so schön sind, wie sie es sind, und zwar dank des Kunstgewerbevereins und der hinter ihm stehenden Polytechnischen Gesellschaft (die sich 1816 gegründet hat u. G. als Ehrenmitglied aufgenommen hat!). Darum können hier nun kulturelle Veranstaltungen, Lesungen und Konzerte stattfinden! (In den oberen Geschossen sind Museumsräume eingerichtet.)

Dieses Haus ist ein klassizistisches Gebäude, ihm liegt ein menschliches Maß zugrunde und so fühlt es sich ein bißchen so an, als hätte es eine Seele. Der „Seele“ dieses Hauses tut es gut, wenn wir uns mit den Menschen befassen, die hier gelebt haben und ein- und ausgingen.

Wir wollen das gerne öfter tun und haben es auch schon getan: Letztes Jahr am 3. Dezember (2013) widmeten wir einen Abend der damaligen Arabesken-Ausstellung im Goethehaus. Dort war unter anderem eine Arabeske zu sehen, die von Gerhardt von Reutern stammt, dem Begründer der Schwälmer Malerkolonie. Er hatte 1831 Goethe gebeten, seine Arabeske mit einem Gedicht zu versehen. Und viele Jahre später – von 1848 bis 1851 – wohnte Gerhardt von Reutern mit seiner Familie hier in diesem Haus (bevor Georg Friedrich Metzler es gekauft hat). Das war uns also im letzten Jahr Anlass, die von Goethe gewidmete Arabeske und Gerhardt von Reutern hier vorzustellen.

Und ob Sie’s glauben oder nicht: Gerhard von Reutern zu gedenken hat auch jetzt einen Sinn: 30 Jahre bevor er hier eingezogen ist, traf er Goethe am 25. September 1815 im Garten des Heidelberger Schlosses und wurde wahrscheinlich dabei gestört von Familie Willemer…

Diese Septembertage des Jahres 1815 liegen am Ende der zwei Jahre, derer wir heute gedenken wollen.

Wir beginnen mit dem Erbauer der Villa in der wir uns befinden, mit dem Apotheker Johann Peter Salzwedel. Er hatte das klassizistische Landhaus vor den Toren der Stadt um 1804 errichten lassen, nachdem Ende des 18. Jahr­hunderts die Stadtbefestigung geschleift worden war. Über den Apotheker, Naturaliensammler und Botaniker Salzwedel wäre einiges zu sagen – aber das müssen wir uns aufheben. Vielleicht für nächstes Jahr? Da hat er 200sten Todestag…

Heute sind uns Johann Peter Salzwedel und seine Villa nur der Dreh- und Angelpunkt für eine andere Geschichte, für eine ganz besondere und schmerzlich-schöne!

Im Sommer 1814[1] war Johann Wolfgang von Goethe nach siebzehnjähriger Abwesenheit wieder in die Rhein-Main-Gegend gekommen, zunächst zur Kur nach Wiesbaden.

Einen ersten Zwischenstopp legte er am 28. Juli in Frankfurt ein und schreibt darüber an Christiane (29.07.1814, 25/6884): „Auf der Brücke verwunderte ich mich über die neuen Gebäude und konnte überall wohl bemerken was sich verschlimmert hatte, was bestand und was neu heraufgekommen war.“

Unsre Villa, die zu diesem Zeitpunkt schon 10 Jahre hier stand, konnte Goethe, der 1797 zuletzt hier gewesen war, noch nicht kennen. Er kann aber unmöglich sie meinen, wenn er von „Verschlimmerung“ spricht. J Dann fuhr er weiter nach Wiesbaden.

Goethe war (noch) 64 Jahre alt. Als Reiselektüre führte er zwei eben er­schienene Bände mit sich, die sein Verleger Johann Friedrich Cotta ihm überreicht hatte: Es war der Divan des Hafiz, den Joseph Hammer-Purgstall erstmals übersetzt hatte.

Ein Divan ist ja nicht nur ein bequemes Sitzmöbel. Das ursprünglich persische Wort bezeichnet auch „die Ratsversammlung“ und im über­tragenen Sinne „gesammelte Texte“. Hier also die Gedichte des Hafiz (1326 – 1390), jenes großen persischen Dichters des 14. Jahrhunderts aus Schiraz, dessen eigentlicher Name Mohammed Schams ad-Din lautet. Sein Beiname „Hafiz“, den er selbst in die letzten Verse aller seiner Gedichte verwob, besagt, daß er den Koran auswendig konnte. Der Koran ist ja bekanntlich auf Arabisch abgefasst. Diese Sprache ist für Perser nicht leicht zu erlernen (viele mögen sie auch nicht) und die älteren Dichter, wie Firdausi, haben keine arabischen Fremdworte verwendet, auch wenn das Persische viele aufgenommen hat. Es heißt (in einem ‚aktuellen‘ Artikel d. Allgem. Lit.zeitung von 1828): „nur Hafiz hat seiner Poesie dadurch einen neuen Reiz verliehen, daß er die persische Sanftheit mit dem Kräftigen und Sonoren des Arabischen zu verschmelzen gewußt hat.“[2]

Hafiz hat das Arabische beherrscht. Es war vielleicht für ihn eine Lebens­versicherung: Die damals wie heute gestrenge muslimische Geistlichkeit, die er oft in seinen Gedichten mit Spott bedacht hat, durfte ihm nicht viel anhaben, wenn er neben Rosen und Nachtigallen auch Knaben, Mädchen, Schenken und Wein besang, solang er auch den Koran auswendig rezitierte.

Die Mullahs waren aber doch nicht dumm und bemerkten, dass diese Sinnenfreude nicht zu ihren Regeln passen wollte. So wurde über Hafis eine Fatwa verhängt und eine Weile war es strittig, ob man ihn anständig beerdigt. Man einigte sich darauf, dass all die Sinnenfreuden mystisch zu verstehen seien.

Joseph von Hammer-Purgstall der erste Übersetzer, den Goethe ja las, hat all dies im Vorwort erläutert. Hammer-Purgstall bemerkt auch (29): „Die Gräuel politischer Stürme, welche damals den Orient erschütterten [er spricht vom 14. Jh.], bilden einen merkwürdigen Contrast mit der unge­trübten Heiterkeit des Dichters, der, während rund um ihn her Reiche zusammenstürzten, und Usurpatoren donnernd empor schoßen, mit ungestörtem Frohsinn von Nachtigallen und Rosen, von Wein und Liebe sang.“ – das erinnert uns nicht nur an die heutigen Greuel im Orient: Hammer-Purgstalls Wortlaut wird auch von Goethe aufgegriffen, denn der sah Parallelen zwischen dem Eroberer Timur zu Hafisens Zeit und Napoleon zu seiner, der Goethezeit.

Kurz und gut: Goethe war begeistert von Hafis, von Persien und von sich selbst und er wollte mit Hafis wetteifern im Dichten. Während er 1814 physisch gen Westen reiste, zog es ihn geistig gen Osten.

Es zog ihn aber auch in die deutsche, ja in die katholische Vergangenheit – und das wird oft vergessen, wenn von Goethes poetischer Orientreise die Rede ist: Denn ein Hauptziel seiner Reise von 1814 war Heidelberg: Dort hatten die Brüder Boisserée aus den aufgehobenen Kirchen und Stiften Altarbilder und Alte Meister gesammelt. Goethe betrachtete sie über zwei Wochen (zw. 24. September und 9. October) und war hingerissen. Er wollte dem jungen Sulpiz Boisserée helfen, diesen Schatz an die Öffentlichkeit zu bringen und den Deutschen klar zu machen, was sie daran haben. Und noch tiefer verstrickte sich Goethe ins Altdeutsche und Katholische: Er ließ sich von den Boisserées anstecken und plante schon gleich, im nächsten Jahr (1815) mit ihnen den unvollendeten Kölner Dom zu besuchen. Für dessen Restaurierung setzte er sich anschließend ein. Er bezeichnete den Dom in einer Schrift von 1824 als „das tüchtigste, großartigste Werk, das vielleicht je auf Erden gegründet worden sei“ und so wurde 1842 der Weiterbau begonnen.

Diese durchaus gegenläufigen Dinge hatte Goethe also im Kopf und vor Augen, als er begann, mit Hafiz um die Wette zu dichten.

Um nach so langer Zeit wieder nach Frankfurt zu kommen, hatte Goethe auch persönliche Gründe: Er hatte begonnen an „Dichtung und Wahrheit“ zu arbeiten: Erinnerungen sollten aufgefrischt werden und alte Freunde verlangten nach ihm.

Besonders innig verlangte Johann Jakob Willemer nach Goethe, der ihn schon im August in Wiesbaden besuchte. Einmal kam Willemer mit Marianne nach Wiesbaden und einmal ohne. Einen Monat später, am 27. September 1814 (als Goethe gerade in Heidelberg weilte), heirateten die beiden geschwind und ohne Aufgebot. Es steht die Vermutung im Raum, dass Goethe Willemer geraten hat, das Verhältnis zu seiner ehemaligen Pflegetochter endlich auf legale Beine zu stellen.

Als Goethe dann im September 1814 von Wiesbaden nach Frankfurt kam, wohnte er zwar bei der Familie seines Schwagers Schlosser, doch er fuhr öfter raus auf die Gerbermühle, die Johann Jakob Willemer auf Lebenszeit gepachtet hatte. Ja, am Tag nach der Rückkehr von seiner Heidelberg-Reise zu Sulpiz Boisserée, das war der 12. Oktober 1814, besuchte Goethe die Gerbermühle und dort traf er nur Marianne an und sonst niemanden. Das Datum wurde den beiden so wichtig, daß Marianne ihren Eintrag in Goethes Stammbuch („Zu den Kleinen zähl ich mich“), den sie vermutlich im Dezember 1814 angefertigt hat, auf den 12. Oktober rückdatiert hat.

Wenige Tage nach seinem Besuch auf der Gerbermühle am 12. Oktober kam Goethe auf die Idee, Johann Peter Salzwedel hier in der Villa zu besuchen. Goethe interessierte sich besonders für Salzwedels große Sammlung von Naturalien. Die führte er in seinem Konzept zu „Kunst und Alterthum“[3] unter anderen als „beschaut und beobachtet“ an und bezeichnete sie als „Salzwedels Museum“. Es gab hier also quasi von Anfang an ein „Museum“ in der Villa![4]

Von seinem Besuch schrieb Goethe am Sonnabend, den 15. Oktober 1814 an seine Frau Christiane:

„Ging ich zu Frau Stock, wo über die bevorstehenden Feyerlichkeiten gesprochen wurde [Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig 1813]. […] Vor dem Fahrthor fand ich mich mit Schlosser zusammen, wir fuhren über, zu Herrn Salzwedel, dessen Mineralien Sammlung wir besahen. Sie enthält köstliche Exemplare, allein die vielen Kriegsstürme haben dem Besitzer die Lust daran verkümmert. Mittags mit der Familie, dann zu Herrn Stedel der uns Zeichnungen wies. Unschätzbare Dinge.“

Sie sehen, schon damals gings von hier zwar nicht „ins Städel“ aber „zu Städel“. (Johann Friedrich Städel 1728-1816, 87 J., hatte 500 Gemälde + 2000 Kupferstiche im Privathaus (am Roßmarkt)).

Drei Tage nachdem Goethe hier bei Salzwedel gewesen war, bestaunte er mit Johann Jakob Willemer und dessen Frau Marianne am 18. Oktober 1814 in der Nacht vom Mühlberg aus die 1.000 Feuer anläßlich des ersten Jahres­tages der Leipziger Völkerschlacht. (In dieser Schlacht hatte Gerhardt von Reutern, der später hier in der Villa gelebt hat, seinen rechten Arm verloren.)

Kurz nach den Jubelfeiern, am 20. Oktober 1814, verließ Goethe Frankfurt wieder – aber er wollte im nächsten Jahr wiederkommen!

Vielleicht hatte er da schon Johann Jakob Willemer versprochen, dass er im kommenden Jahr bei ihm Quartier nehmen würde: Die Frankfurter Familien kannten sich ja alle und so war auch Willemer von je mit der Familie Goethe, später besonders mit Frau Rath und auch mit Christiane Vulpius und Goethes Sohn August gut bekannt. Johann Jakob Willemer war einer der einflussreichsten Bürger Frankfurts, der es durch geschickte Bankgeschäfte zu großem Reichtum und Ansehen gebracht hatte. Er war zeitweilig Senator der Reichsstadt Frankfurt (1789-1792) und Preußen zugeneigt. (Das war damals noch nichts schlimmes.) Das Schicksal hatte ihn arg gebeutelt, er hatte zwei Ehefrauen an den Tod verloren und einige Kinder. Er war ein Theater­enthusiast und muß ein eigenartig origineller, nicht immer einfacher Mensch gewesen sein. Seine pädagogischen und moralischen Schriften sind unlesbar und Goethe, der sich immer für ihn verwendet hat, stellte Willemers Bücher in seine Bibliothek, wo sie bis heute unaufgeschnitten stehen.

Der Witwer Willemer lebte mit vier Kindern[5] und dem Hauslehrer Mieg winters im Haus zum Roten Männchen und Sommers auf der Gerbermühle. Von seinen drei Töchtern heiratete eine den Bankier Johannes Andreae und bekam 15 Kinder, von denen 12 erwachsen wurden, so dass heute ein großer Teil der Willemerschen Nachkommenschaft der Familie Andreae ange­hört… Als Heike Matthiesen und ich vor einigen Jahren auf die Suche gingen nach Gitarrennoten von Marianne von Willemer, haben wir die verschiedenen Zweige der Familie Andreae ein bißchen aufgerührt, so dass wieder ein Kontakt zum Goethehaus geknüpft wurde, dem jetzt auch einige der ausgestellten Exponate zu verdanken sind. J

Johann Jakob Willemer hatte im Jahr 1800 die 16jährige Marianne Jung als Pflegetochter ins Haus genommen. Sie lebte zunächst unter seinen Kindern wie eine Schwester, denn sie war sogar jünger als seine älteste Tochter Ro­sine. (Aber sie war ganz anders als die Willemer-Kinder, die sehr praktisch veranlagt waren…, Zeitzeugen…)

Für das gesellig-gesangliche Beisammensein der Jahre 1814 und 1815 brachte Marianne die besten Voraussetzungen mit, denn sie kam ja von der Bühne. Dort beim Theater in Frankfurt hatte Willemer sie kennengelernt. Unehelich geboren, war sie als 14jährige mit ihrer schauspielernden Mutter aus Öster­reich gekommen und trat in kleinen Rollen und als Tänzerin in Frankfurt auf. Berühmt wurde sie durch das Stück „Geburt des Harlekin“ (Morelli), wo sie als Harlekin aus dem Ei schlüpfte und dabei nicht nur Willemer, sondern auch Clemens Brentano erstaunte. Aber sie wurde auch aus einer Kanone geschossen… und das ging wohl ganz gut, denn sie war und blieb ja klein.

Marianne wurde mit ihrer Heiterkeit und Liebenswürdigkeit bald ein ruhender Pol in der Familie Willemer.

In Willemers Obhut hatte Marianne Gesangs- und Gitarrenunterricht. Zwischen 1806 und 1808 trat sie mehrfach als Solistin in öffentlichen Konzerten auf. Im November 1806 musizierte sie zusammen mit ihrem Lehrer Christian Gottlieb Scheidler in Mainz vor der Kaiserin Joséphine. Und die Scheidler-Romanze, die sich Kaiserin Joséphine eigens gewünscht hatte und die Marianne ihr damals vorspielte, hören Sie jetzt!

Romanze aus d. 1. Sonate von Scheidler (für Josephine)

Zum Dank für ihr Spiel erhielt Marianne ein Schmuckensemble. (In der Ausstellung zu sehen!)

Diese Zeit war prägend für ihre musikalischen Aktivitäten der späteren Jahre, in denen sie führend bei der Gründung des Cäcilien-Vereins (1818) mitwirkte und bei Konzerten. Sie bildete später Sängerinnen aus und Ende der dreißiger Jahre wirkte sie für die Verbreitung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Werk und zuvor stetig für Beethoven, den sie auch Goethe nahezubringen versuchte. Mozart liebte sie zeitlebens…

Fernando Sor: Introduktion und Variationen über Mozarts Zauberflöte op. 9 (Auszug)

Marianne von Willemer hat aber auch gedichtet: Es sind 80 Gelegenheits­gedichte überliefert, zu jedem Jubiläum gab es eins und auch zu den Geburts­tagen Jakob Willemers (da brachte der mit Bändern geschmückte Hund Pazarello das Gedicht am Halsband).

Es ist auffällig, welch großen Qualitätsschub diese Gedichte in der Zeit ge­winnen, als Marianne Goethe kennengelernt hat. Das beweist ein niedliches Gedicht, das sie zu Willemers 55. Geburtstag am 23. März 1815 verfaßt hat – und das auch zeigt, dass ihr Selbstbewußtsein größer war als sie selbst:

Von den Übeln die man wählet
Wähle man das kleinste
Darum hast du wohlgewählet
Dir die kleinste Frau vermählet
Aber auch die feinste…
Nie würd ich zu Ende kommen
Nur mit wenig Worten
Du selbst bist zu deinem Frommen
Seit du sie zur Frau genommen
Merklich besser worden.

Hieraus können wir vielleicht auch erschließen, wie Goethe darauf kam, Marianne, die die Sitzordnungen bei Tisch streng regelte, als „der kleine Blücher“ zu bezeichnen.

Mariannes erstes Gedicht „für Goethe“ hat sie ihm im Dezember 1814 ins Stammbuch geschrieben. Auch da spielt sie mit ihrer kleinen Größe und außerdem mit einer Redensart, die Goethe gern gebraucht hat:

Zu den Kleinen zähl ich mich,
Liebe Kleine nennst Du mich.
Willst Du immer so mich heißen,
Werd ich stets mich glücklich preisen,
Bleibe gern mein Leben lang
Lang wie breit und breit wie lang.

Als den Größten kennt man Dich,
Als den Besten ehrt man Dich,
Sieht man Dich, muß man Dich lieben,
Wärst Du nur bei uns geblieben,
Ohne Dich scheint uns die Zeit
Breit wie lang und lang wie breit.

Ins Gedächtnis prägt ich Dich,
In dem Herzen trag ich Dich,
Nun möcht ich der Gnade Gaben
Auch noch gern im Stammbuch haben,
Wärs auch nur den alten Sang:
Lang wie breit und breit wie lang.

Doch in Demut schweige ich,
Des Gedichts erbarme Dich,
Geh o Herr nicht ins Gerichte
Mit dem ungereimten Wichte,
Find es aus Barmherzigkeit
Breit wie lang und lang wie breit.

Dieses Gedichtchen hat sie, wie gesagt, auf den 12. Oktober 1814 datiert, den Tag, vor 200 Jahren, an dem Goethe Marianne allein auf der Gerbermühle angetroffen hatte.

… und kurz darauf war Goethe hier in der Villa …

Doch das Jahr 1814 bildet nur den Auftakt zum eigentlichen Divan-Jahr 1815! 1815 entstand das „Buch Suleika“, das ursprünglich nicht vorgesehen war und das den Gesamtplan für den West-östlichen Divan umwarf. 1815 war es auch, als Goethe eine Zeitlang „vis a vis“ lebte: Er wohnte nämlich zum einen auf der Gerbermühle, zum anderen aber im Haus zum Roten Männchen, das fast genau gegenüber unserer Villa am Fahrtor lag. Zeitweilig war es später eine Badeanstalt. Leider hat der Krieg es zerstört.

Seit dem letzten Jahr hatte Goethe über 100 Divan-Gedichte geschrieben, denn es hatte ihn richtiggehend „erwischt“: „Und mag die ganze Welt versinken, / Hafis, mit dir, mit dir allein will ich wetteifern! Lust und Pein / Sei uns, den Zwillingen, gemein!“

Tatsächlich versank die Welt noch einmal, nachdem man geglaubt hatte, die Napoleonischen Kriege seien mit der Leipziger Völkerschlacht beendet, denn Napoleon hatte Ende Februar 1815 Elba verlassen. Am 18. Juni 1815 verlor er bei Waterloo gegen Wellington und Blücher.

Da weilte Goethe schon wieder in Wiesbaden an den warmen Quellen. Einen Monat später schreibt er an Christiane aus Wiesbaden (11. Juli 1815):

„Eine große stille und laute Freude ist in dieser Gegend wegen des errun­genen Siegs. Wäre die Schlacht verloren gegangen, so hätte man die un­ruhige, unglückliche Nachbarschaft schon wieder auf dem Halse. Unter­dessen bedauert jede Familie einen todten, verwundeten, vermißten, verstummten. Und dies giebt bey so großem Glück dem Aufenthalt eine traurige Stimmung, auch blessirte kommen nach und nach. … Und doch ist alles froh weil man bedenckt daß diese Übel von dem allergrößten hätten verschlungen werden können.“

Leidgeprüft waren auch die Willemers: Als Goethe am 12 August auf der Gerbermühle eintraf, war gerade die Enkelin Maria Magdalena Andreae gestorben.

14 Tage später aber feierte eine große Runde, teils mit alten Schulfreunden, Goethes 66sten Geburtstag auf der Mühle, sehr ausgelassen und lustig. Es macht noch heute Freude darüber zu lesen. Und das können die Nachgeborenen seit 1862 das Tagebuch von Sulpiz Boisserée veröffentlicht worden ist, das über die Tage im August und September 1815 munter berichtet… Während Goethe sich kürzer fasst: „Gesang. Aroiso. Lieder. Bis in die Nacht Unterhaltung.“ (28.8.185 GT, Weitz 310) Das ist alles, was er über seinen Geburtstag schreibt.

Boisseree berichtet am nächsten Tage: „Der Alte setzt sich auf eine bessere Diät. Der viele 11er Rheinwein und die feuchte Luft hat ihm zugesetzt, jetzt trinkt er bloß Bacharacher.“

Bei der Geburtstagsfeier drehte sich vieles um den Divan und den Orient: Das Gartenhaus war mit Schilf ausgeziert wie mit Palmbäumen.

Boisserée: „Die Frauen hatten einen Turban von dem feinsten indischen Muslin, mit einer Lorbeerkrone umkränzt, auf zwei Körbe voll der schönsten Früchte – Ananas, Melone, Pfirsich, Feigen und Trauben – dann einen voll der schönsten Blumen gelegt. […] er liest von seinen orientalischen Gedichten – Heitere, freundliche Stimmung des kleinen Kreises.“ (BT, Weitz 310)

Wir haben keinen Hinweis darauf gefunden, welche Musikstücke an Goethes Geburtstag tatsächlich erklangen. So geben wir ihm jetzt ein Ständchen mit einem Rondo von Scheidler (bevor wir das Päuschen machen):

Scheidler Rondo

                                                    – Pause –

Scheidler Allegro

Am 8. September zog Goethe von der Gerbermühle um ins Haus zum Roten Männchen. (Und damit war er nun endlich „vis a vis“ J) Er schreibt an Christiane am 12.9.1815: „Gegenwärtig bin ich in der Stadt, allein, in Willemers Wohnung, deren unschätzbare Aussicht du kennst. Von Morgens bis Abends ists unter meinen Fenstern lebendig, Tags laufe in der Stadt herum, Menschen und Sammlungen zu sehen. Franckfurt stickt voll Merckwürdigkeiten.“

… und Goethe begibt sich unter alle die Merkwürdigkeiten der Stadt, denn es war wieder Messezeit, großes Gedränge in den Gassen und auf den Plätzen. Die Schiffer und Marktleute lärmen früh, laden ihre Waren ein- und aus.

Goethe betrachtet alles, befragt die Händler und Schiffer, guckt in jede Kiste und läßt sich erklären, was, wie, warum… Er traf ihn „maulaffend“, schreibt Boisserée.

Aber Goethe dichtet auch im Haus zum Roten Männchen: Am 12. Septem­ber schreibt er nicht nur den Brief an Christiane, sondern auch ein Gedicht, mit dem er Marianne Willemer provoziert:

Nicht Gelegenheit macht Diebe
Sie ist selbst der größte Dieb;
Denn sie stahl den Rest der Liebe,
Die mir noch im Herzen blieb.

Dir hat sie ihn übergeben,
Meines Lebens Vollgewinn,
Daß ich nun verarmt, mein Leben
Nur von dir gewärtig bin.

Doch ich fühle schon Erbarmen
Im Karfunkel deines Blicks
Und erfreu in deinen Armen
Mich erneuerten Geschicks.

Vier Tage später antwortet ihm Marianne mit einem eigenen Gedicht. Sie ist die einzige Frau, die ihm je auf eines seiner Gedichte geantwortet hat! Sie wandelt die Liebesklage um in einen, wie Ernst Beutler es so schön ausdrückt, „Liebesjubel“. (Komm. 569) (Meist lieferten Frauen zu jener Zeit Stickereien für Stammbücher etc. …)

Hochbeglückt in deiner Liebe
Schelt‘ ich nicht Gelegenheit;
Ward sie auch an dir zum Diebe,
Wie mich solch ein Raub erfreut!

Warum läßt du dich berauben?
Gib dich mir aus freier Wahl;
Gar zu gerne möcht ich glauben –
Daß dein Herz ich selber stahl.

Was so willig du gegeben,
Bringt dir herrlichen Gewinn;
Meine Ruh, mein reiches Leben
Geb ich freudig, nimm es hin!

Scherze nicht! Nichts von Verarmen!
Macht uns nicht die Liebe reich?
Halt ich dich in meinen Armen,
Welch ein Glück ist meinem gleich.                   16. September 1815

„Hochbeglückt“ ist Mariannes erstes Wort: Es ist eine neue Wortprägung in deutscher Sprache! (Allein – wer sonst? als: Schiller hat es zuvor verwendet: „ich bringe, hochbeglückter, dir die Tochter“. Schiller Iphig. 2, 3)

Sie bietet in dem Gedicht Trost auf die Klage des Beraubten und bekennt ihre Gegenliebe. Dabei variiert sie in der dritten Strophe Gretchens berühmten Monolog „Meine Ruh ist hin“ und zwar ins Positive gewendet: Sie will ihre Ruh, ihr reiches Leben gern hingeben!

Am 13. September stromerte auch Marianne über die Messe und fand bei einem Türken einen Sonne-Mond-Orden aus Pappmache. Den verlieh[6] sie Goethe und der behielt ihn für immer in seinem Schatzkästchen. Ein Wechselgesang zwischen Suleika und Hatem ist dem Sonnemond gewidmet: „Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen! / Der Sichelmond umklammert sie.“

Und dann kamen sie wohl quasi zu uns herüber über den Main: Die Abfahrts­stelle für das Schiff zur Gerbermühle lag damals hier auf unserer Seite, da wo heute der Eiserne Steg einmündet. Als Übergang über den Fluss diente ein kleiner Fährverkehr. Goethe hat mehrfach im Tagebuch verzeichnet, dass er vom Mainkai übergesetzt hat zum Schaumainkai – manchmal um von hier aus zur Gerbermühle zu fahren, manchmal einfach so. Am 13. September verzeichnete er im Tagebuch: „Mit M[arianne] hin und wieder bis ans Sch[aumain]Thor. Übergefahren. Am Divan geschrieben.“

Nach acht Tagen beendete Goethe seine Zeit im Roten Männchen und kehrte zur Gerbermühle zurück. Er schickte am selben Tag (15. Sept.) ein Gingko-Blatt voraus mit dem berühmten Gingko-Gedicht.[7] (Vielleicht hat er hier bei Salzwedel das Blättchen gemopst, jedenfalls stand hier der nächste Gingko-Baum. Aber die Hüter des Petrihauses im Brentano-Park meinen natürlich, das Baumes Blatt käme von ihnen… Aber Goethe hat für sich behalten, von welchem Baum er das Blatt genommen hat.)

Ein ausgelassener Abend auf der Gerbermühle folgte dem Tag, als Marianne ihr erstes großes Gedicht („Hochbeglückt…“) geschrieben hatte: Boisserée schreibt: Marianne sang zur Gitarre „mit ganz besondrem Affekt und Rührung: Der Gott und die Bajadere. Dann: Kennst du das Land usw., auch ausdrucksvoller als ich es noch gehört“ (16.9.1815)

Louis Spohr: Kennst Du das Land?

Auf den nächsten Tag (17.9.) ist ein dichterischer Dialog zwischen Suleika und Hatem datiert, in dem der Main zum Euphrat wird, in welchen Suleika ihren Ring verliert und so Hatem ihrem Flusse vermählt:

„Der Terrasse, diesem Hain / Hier soll bis zum letzten Kusse / Dir mein Geist gewidmet sein.“ (in Suleikas Frage reimt sich „Morgenröte“ auf „Goethe“. Anstelle von Goethe steht aber „Prophete“, vgl. Weitz, 323)

Es folgt der letzte Abend, bevor Goethe und Boisserée am nächsten Tag aufbrachen. Boisserée schreibt: „Abends Gesang – … Der Gott und die Bajadere – Goethe wollte dies anfangs nicht – es bezog sich dies auf ein Gespräch, das ich kurz vorher mit ihm geführt – daß es fast ihre eigene Geschichte – so daß er gesagt, sie soll es nimmer singen. –

Die Bajadere ist eine Tempeltänzerin, die in einem indischen Tempel dient. Ein Gott in Menschengestalt nähert sich ihr und stirbt nach der Liebesnacht in ihren Armen. Sie folgt ihm aus Liebe in die Flammen. [Sicherlich wollte sich G. nicht, wie oft geargwöhnt, mit dem Gott vergleichen, sondern vielmehr, M.s prekärer Lage als „fahrende Tänzerin“ bedauern]

Weiter berichtet Boisseree über diesen heiteren Abend des 17. September: [versch. weitere Lieder] – Don Juan ‚Gib mir die Hand, mein Leben’, [Duett] als Arie gesungen. Goethe nennt sie einen kleinen Don Juan; würklich war ihr Gesang so ver­führerisch gewesen, daß wir alle in lautes Lachen ausbrachen und sie den Kopf in den Noten versteckte und sich nicht erholen konnte.

Gitarre: Reich mir die Hand mein Leben, Variationen Mertz

Am 18. September reiste Goethe nach Heidelberg, von dort aus wollte er die Heimreise antreten. Zu aller Überraschung und zwei Tage früher als geplant, kommen Willemers mit Rosine Städel am 23. früh ebenfalls in Heidelberg an. Man speist zusammen und verbringt noch einige wenige Tage beieinander. Die Herzstücke der Suleika-Gedichte entstanden in dieser Zeit und in Erinnerung daran.

Auf der Reise nach Heidelberg, schrieb Marianne in der Kutsche das Gedicht: Was bedeutet die Bewegung?

Sie hören die ursprünglich Fassung         Heike Matthiesen liest

Was bedeutet die Bewegung?
Bringt der Ost mir frohe Kunde?
Seiner Schwingen frische Regung
Kühlt des Herzens tiefe Wunde.

Kosend spielt er mit dem Staube,
Jagt ihn auf in leichten Wölkchen,
Treibt zur sichern Rebenlaube
Der Insekten frohes Völkchen.

Lindert sanft der Sonne Glühen,
Kühlt auch mir die heißen Wangen,
Küßt die Reben noch im Fliehen,
Die auf Feld und Hügel prangen.

Und mir bringt sein leises Flüstern
Von dem Freunde lieblich grüßen,
Eh noch diese Hügel düstern
Sitz ich still zu seinen Füßen.

Und du magst nun weiter ziehen,
Diene Freunden und Betrübten.
Dort, wo hohe Mauern glühen
Finde ich den Vielgeliebten.

Ach, die wahre Herzenskunde,
Liebeshauch, erfrischtes Leben
Wird mir nur aus seinem Munde,
Kann mir nur sein Athem geben.           23. September 1815

Der Ostwind ist der Liebesbote der persischen Poesie. Er weht durch die Gedichte von Hafiz und Goethe. Wahrscheinlich greift Marianne hier das Motiv auf, welches ihr in Goethes erstem überliefertem Chiffernbrief vom 21. September begegnet ist.

Eventuell war sie es gewesen, die auf die Idee gekommen war, sog. Chifferngedichte zu schreiben: Beide besaßen eine Ausgabe des Hafizschen Divan und schickten sich Gedichte, die nur aus Zahlen bestanden, die Seite und Vers bezeichneten. Diese Zahlenkolonnen waren nur ihnen verständlich und da die zitierten Verse aus Hafiz’ Gedichten stammen, sind sie leidenschaftlich.

In Mariannes „Fahrtgedicht“ gleitet die Landschaft am Leser vorbei, als ob er selbst mit im Wagen säße. Wir sehen die Staubwirbel, die spielenden Mücken, die Gartenlauben und Rebenhänge der Bergstraße, fühlen die Morgensonne und ahnen die Türme und Mauern des Schlosses am Neckar. Am Ende schickt sie den Ostwind fort, er solle andren dienen; ihr gibt der Athem des Geliebten „die wahre Herzenskunde, / Liebeshauch“ und „erfrischtes Leben“.
Das Bild der Liebenden, die zu Füßen des Geliebten kauern möchte, hat Goethe in seiner Version eliminiert. Aus: „Eh noch diese Hügel düstern / Sitz ich still zu seinen Füßen“ machte er: „Eh noch diese Hügel düstern, / Grüßen mich wohl tausend Küsse.“ (Er hat sie zu sich erhoben/hochgezogen…)

Am nächsten Tag „antwortete“ Goethe unter anderem mit „Wieder finden“, daraus die erste Strophe:

Ist es möglich! Stern der Sterne,
Drück ich wieder dich ans Herz!
Ach, was ist die Nacht der Ferne,
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!

Ja, du bist es, meiner Freuden
Süßer, lieber Widerpart!
Eingedenk vergangener Leiden
Schaudr ich vor der Gegenwart.

Das ist wunderschön mit dem „Stern der Sterne“ und so treffend mit dem „lieben Widerpart“. In den letzten Zeilen kommt die Angst vor erneutem Abschiedsschmerz zum Ausdruck.

Und der steht wieder bevor: Marianne und Goethe verabschieden sich am 26. September im Park des Heidelberger Schlosses. Dabei werden sie von einer Gruppe Studenten und einer Gruppe russischer Soldaten gestört. Noch 1824, 9 Jahre später, gedachte Marianne dieses Tages auf dem Schloß mit einem langen Gedicht.

In Goethes Nachlass fand sich ein Gedicht, das nach dem Abschied ent­standen sein muß, und das er weder in das Buch Suleika aufgenommen noch je zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Man nimmt an, weil es zu persönlich ist. Es zitiert ein Nasib, eine arabische Hirtendichtung, deren Topos darin besteht, daß das lyrische Ich an den von der Karawane und damit von der Geliebten verlassenen Lagerplatz kommt. Bei Goethe heißt es: „Lasst mich weinen umschränkt von Nacht“ und später: „Ich … berechne die Meilen / Die mich von Suleika trennen“ (Bosse 680)

Während Marianne-Suleika in der Kutsche nach Frankfurt zurückfährt, schreibt sie wieder ein Gedicht – auf der Hinfahrt an den Ostwind – auf der Rückfahrt an den Westwind.

Heike Matthiesen liest

Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide,
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich in der Trennung leide.

Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen,
Blumen, Augen, Wareld und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Thränen.

Doch dein mildes, sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müßt ich vergehen,
Hofft ich nicht zu sehn ihn wieder.

Gehe denn zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen,
Doch vermeid, ihn zu betrüben
Und verschweig ihm meine Schmerzen.

Sag ihm nur, doch sags bescheiden,
Seine Liebe sei mein Leben,
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Nähe geben.                    26. September 1815

Die Hinfahrt war sonnig – auf der Rückfahrt regnet es.

Die Suleika-Lieder „An den Ost-“ und „An den Westwind“, sind von allen Divan-Gedichten am meisten vertont worden. Sie galten natürlich als Lieder von Goethe. Und Eckermann hat sie einmal als besonders „goethisch“ gepriesen. Goethe schickte – vermutlich lachend – den Beleg an Marianne.

Goethe hat ja Mariannes Gedichte in den West-östlichen Divan aufgenommen, ohne sie besonders zu kennzeichnen.

Man findet zuweilen den Gedanken, daß Goethe unverschämt gehandelt habe, weil er ohne Marianne zu fragen, einfach Gedichte von ihr in sein Werk aufgenommen habe. Das ist ein guter Scherz.

Es berührte Marianne von Willemer auf das Glücklichste, dass Goethe ihre Gedichte neben die seinen gesetzt hat und es war ihrer beider Geheimnis.

Der West-östliche Divan erschien 1819. Nach einer längeren Pause, in der sich Goethe ein wenig entfernt hatte und in der seine Frau im Sommer 1816 gestorben war, hatte er 1817 einen Vorabdruck versucht (ohne Suleika-Gedichte). Er mußte feststellen, daß „die Probe in dem Damenkalender das Publikum mehr irre gemacht als vorbereitet habe“ (Bosse 716). Aus diesem Grund erarbeitet er den Prosateil des Divans, die „Noten und Abhandlungen“, die häufig weggelassen und vergessen werden.

Lesen Sie auch im Prosateil des Divans, wenn Sie sich für die Thematik interessieren! Die Noten und Abhandlungen zeigen, wie klar und kritisch Goethe bei aller Anerkennung den Orient und besonders den Islam sah.

Und in den Gedichten des West-östlichen Divans, müssen wir auch immer wieder lesen! Allein, um wieder wett zu machen, dass die erste Auflage 100 Jahre fast unverkauft beim Verlag herumgelegen hat.

Als Marianne den West-östlichen Divan 1819 von Goethe zugesandt erhalten hatte, schrieb sie ihm:

„Ich habe den Divan wieder und immer wieder gelesen; ich kann das Gefühl weder beschreiben noch auch mir selbst erklären, das mich bei jedem verwandten Ton [ergriff]; wenn Ihnen mein Wesen und mein Inneres so klargeworden ist, als ich hoffe und wünsche, ja sogar gewiß sein darf, denn mein Herz lag offen vor Ihren Blicken, so bedarf es keiner weitern ohnehin höchst mangelhaften Beschreibung. Sie fühlen und wissen genau, was in mir vorging, ich war mir selbst ein Rätsel; zugleich demütig und stolz, beschämt und entzückt, schien mir alles wie ein beseligender Traum, in dem man sein Bild verschönert, ja veredelt wieder erkennt, und sich alles gerne gefallen läßt, was man in diesem erhöhten Zustande Liebens- und Lobenswertes spricht und tut; ja sogar die unverkennbare Mitwirkung eines mächtigen höheren Wesens, insofern sie uns Vorzüge beilegt, die wir vielleicht gar nicht besitzen, und andere entdeckt, die wir nicht zu besitzen glaubten, ist in seiner Ursache so beglückend, daß man nichts tun kann, als es für eine Gabe des Himmels anzunehmen, wenn das Leben solche Silberblicke hat.

Haben Sie Nachsicht mit mir und meinen verworrenen Begriffen, das größte Glück ist immer am unbegreiflichsten. Sie verzeihen mir wohl, daß mein Dank für alles Übersendete später kommt als die Freude über den Besitz.“ (Briefausgabe S. 92)

Das Gedicht über Behramgur und Dilaram konnte sie ganz auf sich beziehen, ohne, daß jemand anders etwas davon ahnte:

Hast mir dieß Buch geweckt, du hast’s gegeben:
Denn was ich froh, aus vollem Herzen, sprach,
Das klang zurück aus deinem holden Leben,
Wie Blick dem Blick, so Reim dem Reime nach.

Nun tön‘ es fort zu dir, auch aus der Ferne
Das Wort erreicht, und schwände Ton und Schall.
Ist’s nicht der Mantel noch gesäter Sterne?
Ist’s nicht der Liebe hochverklärtes All?

Das heilte Mariannes Traurigkeit, die sie in der Zwischenzeit krank gemacht hatte. Ab jetzt schrieb man sich wieder freundlich. Marianne versah Goethe mit Nachrichten aus Frankfurt und sandte Leckereien und Wein aus der Heimat, wie es früher seine Mutter getan hatte.

Von den Umständen der Entstehung des Buches Suleika wußte niemand.

Erst neun Jahre nach Mariannes Tod (und 37 Jahre nach Goethes) berichtete Herman Grimm 1869 über seine langjährige Freundschaft mit Marianne von Willemer. Herman Grimm, dem Sohn von Wilhelm Grimm, hatte sie eines Abends von ihrer Divan-Zeit erzählt. Bis 1869 war all das, was wir uns heute vergegenwärtig haben – wie gesagt – ein Geheimnis. Und auch heute noch, wissen wir in Wahrheit nicht viel, auch wenn aus vielen unberufenen Mündern allerlei fabuliert wird! (gut so!)

Für Marianne von Willemer war einiges teuer erkauft. Sie schrieb Herman Grimm am 11. November 1851: „… die Ereignisse sind nicht das wichtigste, was ein Mensch erlebt. Was dazwischen liegt, das ist ein Weg, der mit Steinen, die auf dem Herzen liegen, gepflastert, mit Tränen begossen und mit Seufzern durchweht ist. -“ (BfW, S. 75)

Marianne von Willemer und Goethe haben sich nicht wiedergesehen.

Heute können Sie in der Ausstellung im Goethehaus all die kleinen und großen Schätze der Divan-Zeit sehen. Auch Goethes Gedicht „Vor die Augen meiner Lieben“, das er der Sendung beigelegt hat, mit der er Marianne von Willemer kurz vor seinem Tod (29.2.1832) ihre Briefe zurückgeschickt hat.

Im Brief schreibt er: „Dergleichen Blätter geben uns das frohe Gefühl, daß wir gelebt haben; dies sind die schönsten Dokumente, auf denen man ruhen darf.“

Diese ihre „Blätter“, diese „Dokumente“ auf denen Goethe „ruhen durfte“ hat Marianne abschreiben lassen und – vernichtet. Goethes Briefe aber lagen unter einer gläsernen Haube offen in ihrem Zimmer in der Alten Mainzer Gasse, von der aus sie auf den Main und zu uns herüber schauen konnte.

Nun will es der Zufall, daß heute Neumond ist! Und zwar ganz und gar.

Bei Vollmond aber, das legen eine Reihe von Gedichten nahe, haben Goethe und Marianne von Willemer aneinander gedacht.

Sogar noch 1828, nach dem Tod seines Herzogs, schickte Goethe ihr im Oktober (23.10.) das Gedicht „Dem aufgehenden Vollmonde!“, datiert mit „Dornburg, den 28. August 1828“. Er datierte das Vollmond-Gedicht also auf seinen Geburtstag, vielleicht in Erinnerung an den 13 Jahre zurückliegenden von 1815 auf der Gerbermühle. Und das lyrische Ich spricht zum Mond:

Zeugest mir, daß ich geliebt bin, /Sei das Liebchen noch so fern.

Im Gewand der Poesie bleibt uns die Liebe aufbewahrt!

Gitarre: Mozart, Andante aus der Sonate KV 330 (Transkription Miguel Llobet)

Schluss

Diesen Blick dürfte Goethe vom Haus zum Roten Männchen auf die Villa Salzwedel 1815 gehabt haben:

Dorothea Cuntz-Hofmann Frankfurter Mainufer auf Schaumaintor, um 1815.php

Dorothea Cuntz-Hofmann: Blick Schaumaintor, um 1815, Historisches Museum, Bild: Ziegenfusz

[1] Aufbruch 25.7.1814
[2] (v. Bohlen in: Allg. Literaturzeitung 1828, S. 738)
[3] Wolfgang-Hagen Hein und Dietrich Andernacht: Der Garten des Apothekers Peter Saltzwedel und Goethes Ginkgo Biloba. In: FS für Peter Wilhelm Meister zum 65. Geburtstag am 16. Mai 1974, Hamburg 1975, 303-311. Hier: 306; Goethes Werke, I. Abt., Bd. 34, II, Weimar 1904, S. 13
[4] (in die Druckfassung von „Kunst und Alterthum“ hat Goethe dieses Beispiel dann nicht aufgenommen).
[5] Rosine (1782-1845), Meline (1788-1872), Maxe (1792-1871) verh. Andreae, Brammy (1794-1818)
[6] Weitz, S. 349 zu 28: „des Kaisers Orden“: Anspielung auf das im Juli empfangene Kommandeurkreuz des österr. Leopold-Ordens u auf dessen scherzhaftes Gegenstück, den von Marianne geschenkten ‚Sonnenmondorden‘, der das Bild der Sonne und des Halbmondes vereinigt („Doppelschein“).
[7] Beweis: TB Boisseree „G hatte der Willemer ein Blatt des Ginkho biloba als Sinnbild der Freundschaft geschickt aus der Stadt. Man weiß nicht, ob es ein, das sich in 2 teilt, oder zwei, die sich in eins verbinden. So war der Inhalt des Verses.“ (Weitz 319)

Die Rechte an diesem Vortrag liegen bei der Verfasserin.

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