VON JASMIN BEHROUZI-RÜHL
Heidelberg lockt in diesen Tagen mehr noch als sonst: Im Palais Morass widmet sich das Kurpfälzische Museum der Stadt dem „Flanieren und Spazieren“. Ein unerlässliches Werkzeug für diese Tätigkeit des Bürgers war einst der Stock. Die große Zeit der Spazier- und Flanierstöcke begann im Biedermeier, allgegenwärtig waren sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ursprünglich Symbole der Macht, dienten sie nun dem gesellig-eleganten, heiteren und lustvollen Spiel der Selbstdarstellung.
Heute ist das Image des Spazierstockes denkbar schlecht. Er dient als Krücke und erinnert unschön an unsre Gebrechlichkeit. Sein modernes Gegenstück, der Nordic- Walking-Stock, tritt paarweise auf. Er versucht, Alter und Gebrechen ein Schnippchen zu schlagen. Was sind dagegen die Überbleibsel der Vergangenheit im Palais Morass? Für mich: Das reine Glück!
Das Heidelberger Barockpalais, Hauptstraße 97, ist mit seinen Wohnräumen aus Barock, Rokoko und Biedermeier ein reizvolles Gegenbild zur Historischen Villa Metzler am Frankfurter Schaumainkai. 250 Spazier- und Flanierstöcke sind in einer Kabinettausstellung zu sehen. Jeder einzelne Stock erzählt mit Griff, Ring, Schuss und Zwinge Geschichten von Lust und Liebe, Übermut und Charme, Eleganz und Verführung, Witz und Drolligkeit. In Form von Menschen, Tieren, geheimnisvollen Wesen, Abstrakta sind Kuriosa in Metall, Holz, Elfenbein, Glas und Porzellan gegossen, geschnitzt, gebrannt und bemalt küssen sich hier Phantasie und Kunst. Dazu ein Goethe-Knauf in Elfenbein, was will man mehr?
Auf den Spuren meiner Lieblingsfrankfurterin Marianne von Willemer, die, wie so viele liebenswürdige Menschen, „net von Frankfort“ ist, kann man danach einen kleinen Abstecher zum verschwiegenen Kloster Neuburg machen oder aber hinauf zum Schloss: Auf der Terrasse nahm Marianne am 25. September 1815 Abschied von Goethe. Vier ihrer Gedichte hat er 1819 in seinen „West-östlichen Divan“ aufgenommen. Und sie hat ihm im selben Jahr einen Spazierstock geschenkt: Der Schuss aus Stechpalmenholz, der Knauf ein geschnitzter Wiedehopf. Dieser „Hudhud“, schon von Hafis besungen, war ihr geheimer Liebesbote, und als solcher lehnt dieser Spazierstock noch immer an Goethes Schreibtisch im Haus am Frauenplan in Weimar.
Jasmin Behrouzi-Rühl leitet die Geschäftsstelle des Kunstgewerbevereins Frankfurt und betreut kulturelle Veranstaltungen in der Historischen Villa Metzler. Sie wurde fotografiert von Philip Lisowski.
Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 23. Oktober 2011, Nr. 42