Wie die ‘burcmûs’ zur ‘statmûs’ wurde.
Zum mittelalterlichen ‘Stadt’-Wortwandel in Zusammensetzungen
Jasmin Behrouzi-Rühl
Nicht nur der Arbeitskreis für ‘Historische Stadtsprachenforschung’ dürfte inzwischen aufgrund der Vorträge und Veröffentlichungen von Ernst Erich Metzner (1977, 1979, 1983, 1999b) mit dem Bezeichnungswandel von burc zu stat für die heutige ‘Stadt’ mehr als bislang vertraut sein. Bei den Studien für meine Dissertation, die sich ebenfalls mit dem mittelalterlichen deutschen ‘Stadt’-Wort-Wandel (und zwar in den frühen ‘Herzog Ernst’-Dichtungen) befaßt, stieß ich auf ein zugleich erhellendes und erheiterndes Beispiel, das auf sinnfällige Weise zum einen das erstaunliche Beharrungsvermögen des alten ‘Stadt’-Wortes burc in Zusammensetzungen illustriert, zum anderen die Bedeutungsverengung des Wortes zum heutigen ‘Burg’ deutlich macht und darüber hinaus die sich ergebenden Möglichkeiten des Mißverstehens bei späteren Rezipienten aufzeigt.
Das ahd. Wort burg, mhd. burc, bezeichnete im Deutschen lange Zeit hindurch jede durch ‘umfassende’ Sicherung befestigte Anlage und so auch stadtähnliche Ansiedlungen. Die römisch-deutschen altertümlichen Städtenamen ‘Augsburg’, ‘Regensburg’ etc. zeugen beispielsweise noch von dieser Benennungspraxis. Mit dem Aufblühen des neuen, hochmittelalterlichen deutschen Städtewesens bildete sich seit dem Ende des 11. und dem Beginn des 12. Jahrhunderts die neue, bis heute gebräuchliche Bezeichnung stat/Stadt heraus, und das Wort burc verengte sich auf die heutige Bedeutung ‘Herrenburg’. Gegenüber Edward Schröder (1906: 104; 1944: 92-95), der die recht undifferenzierte Ansicht vertrat, daß um 1200 der Wortwandel in der mhd. Literatur überall „fest und scharf“ vollzogen war, versuchte Max Pfütze (1958) zu zeigen, daß bezüglich der Wortwahl zunächst nach literarischen Gattungen unterschieden werden müßte; andererseits machte er, allerdings ohne präzisere Daten, darauf aufmerksam, daß „die oft eigenständige Überlieferung der einzelnen Landschaften mit ihren verschiedenen Entwicklungen“ berücksichtigt werden müsse (Pfütze 1958: 277). Daß es in der Tat deutliche landschaftliche und jeweils datierbare Verzögerungen bei der Übernahme des neuen ‘Stadtwortes’ stat gab und daß auch noch langhin nach 1200 östliche Landschaften beim alten Wortgebrauch verblieben, wies schließlich E. E. Metzner nach, zunächst in Untersuchungen zur Gründungsstadtnamengebung vor allem des Bereichs mittelalterlicher, deutscher Ostsiedlung. Seine Schülerin Annette Schaper (1991) versuchte die von Metzner gesammelten Daten, die die Richtungen und Stadien des prinzipiell west-östlich gerichteten ‘Stadt’-Wort-Wandels andeuteten, durch literarische Belege aus Teilen des deutschen Altsiedellandes zu vervollständigen.
Schon Edward Schröder (1944: 203) war aber aufgefallen, daß sich das Wort burc im Sinne von ‘Stadt’ in festen, festgewordenen Zusammensetzungen als Bestimmungswort ‚burc‑‘ offenbar länger hielt als für sich genommen. Dazu vermutete er, daß burc im Sinne von ‘Stadt’ auch in der Stadtnamengebung als Grundwort ‚‑burc’ länger verwendet wurde als als Simplex. Diese Annahme ist inzwischen jedoch durch die Stadtnamenuntersuchungen von E. Metzner hinfällig geworden.
Es liegen keine eigenen Untersuchungen darüber vor, ab wann und wo der Gebrauch der sozusagen ‚veralteten‘ Zusammensetzungen mit dem Bestimmungswort ‚‑burc‘ jeweils abgekommen ist; datierbare Beispiele lassen sich bei Pfütze (1958: 318f.) ausmachen. So finden sich Worte wie burctor, burcmure, burcwer oder burcgraben, bezogen auf städtische Befestigungsteile, noch in Texten, die ansonsten schon durchweg das Simplex stat verwenden.[1] Bei einer stichprobenartigen Untersuchung des ‚Stadt‘-Wortschatzes von deutschsprachigen rheinfränkischen, schwäbischen und nordbayrischen Urkunden (Wilhelm 1914) fand ich erwartungsgemäß (vgl. Schlesinger 1963: 105f.) vereinzelt noch alte Fügungen mit ‚burc‑‘, die durch ihre spezielle Bedeutung das alte Stadtwort beibehalten haben: So finden sich in einer Wormser Urkunde von 1300 die Formulierungen „in der stat oder in den burgvriden“ oder „swelch vnser burger sin burgreht vfgibt vnd vszer der stat vert“ (Wilhelm 1914: I, 6, Z. 8f.; 7, Z. 22f.). In einer Regensburger Urkunde von 1259 findet sich als Nachname i.S. vermutlich „vom Stadttor“: „her Albreht von dem bvirhtor, burgaermeister…“; und in einer Augsburger Urkunde von 1305 „…des…hovs bi dem alten bürgetor“ (Wilhelm 1914: VI, 1, Z. 1f.; III, 23, Z. 13).
Ebenso wurden lange Zeit hindurch noch personenbezogene Bezeichnungen auch im städtischen Kontext mit dem alten ‘Stadt’-Wort verwendet, wie burcgrâve (Burggraf, Stadtrichter), burcgraevin, burchuote (Bewachung eines festen Platzes), burckünec (Burgkönig)[2], burcman (Beamter, Vasall, Lehensmann, Stadtrichter etc.), burgliute[3] (Bürgerschaft), burcmeister (vgl. Lexer 1970: Bd. 1, Sp. 390ff.). In diese Reihe ließe sich auch die im Folgenden vorzustellende burcmûs einordnen.
Das wichtigste Wort im hier angesprochenen Zusammenhang ist die alte Zusammensetzung mhd. burgaere, unser heutiges ‘Bürger’. Es meint nicht nur wie ehedem den mit städtischen und also freiheitlichen Rechten und Pflichten begabten Einwohner einer Stadt, sondern auch im übertragenen Sinne den ‘Staatsbürger’.[4] Von burgaere durch Zusammensetzung abgeleitet wurden u.a. burgermeister, burgergeslehte, burgerkneht.
Hier interessiert indessen ein anderer ‘Bürger’, wortgeschlechtlich eigentlich eine ‘Bürgerin’, nämlich jene im Mittelalter aus der aesopischen Fabel in das Tierbîspel[5] übernommene Maus, die im Gegensatz zur ‚Landmaus‘ in der Stadt lebt. In den Fabeln des nachklassischen Lateins stehen diese Mäuse einander als mus rusticus und mus urbanus gegenüber.[6] In einigen Versionen sind die Fabeln auch überschrieben mit „De Mure urbano et agrario“[7] oder „De Mure campi et ville“[8], bei Odo von Cheriton gar mit „De Mure Domestica et silvestri vel campestri“[9]. Eine entsprechende Vorlage hatten wohl auch der mittelniederdeutsche Wolfenbüttler und der Magdeburger Aesop aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, wo die reiche Maus in einem Dorf lebt.[10] Hier geht es aber um die ‘Stadtmaus’, die offenbar – was in dieser kleinen Untersuchung gezeigt werden soll – in den ältesten deutschen Übersetzungen bzw. in den ältesten mündlichen Wiedergaben der lateinischen Aesopica noch burcmûs hieß und erst später zur statmûs wurde. Diese ‘Verwandlung’ verzögerte sich, wie nach dem oben Gesagten anzunehmen, gegenüber dem Gebrauch des Simplexes burc, an dessen Stelle inzwischen das Simplex stat getreten war.
Im Mittelhochdeutschen gibt es zwei Fabelvarianten, in denen eine Maus unter der Bezeichnung burcmûs auftritt:
Nämlich zum einen die bekannte aesopische Fabel „Die Stadtmaus und die Feldmaus“, in der die beiden Mäuse sich gegenseitig bewirten, wobei die Feldmaus, als sie die Gegeneinladung der Stadtmaus annimmt, erkennt, daß die Üppigkeit des Nahrungsangebotes keineswegs die Gefahren des Stadtlebens aufwiegt.[11]
Zum anderen begegnet uns diese Maus in einem weniger bekannten Tierbîspel (Nr. 259) aus dem sog. Wiener Fabelcorpus (Österr. Nationalbibl. Wien, Cod. 2705). Das Tierbîspel handelt von einer burcmûs, die nur durch eine List eine veltmûs wieder los wird, die sich mit ihren Verwandten bei ihr (in ihrer ‘Burg’?) eingenistet hat. Dieses Stück steht mit anderen anonymen und als schwächer angesehenen Fabeln, Bîspeln und Exempeln im direkten Umfeld der Mären und Bîspel des Strickers und wird zuweilen einer ‘Strickerschule’ zugerechnet.[12]
Obschon sowohl die Geschichte als auch die Lehre, die aus ihr zu ziehen ist, im Tierbîspel von der ‘Burgmaus und Feldmaus’ gegenüber der aesopischen Fabel von der ‘Stadt‑/Dorf‑ oder Hausmaus und Feldmaus’ (Grubmüller/Dicke 1987: 617) stark und deutlich abgewandelt ist, wurde der Unterschied m.W. in der Forschung noch nicht erörtert. Jacob Grimm (1816: 184) verweist als erster Herausgeber des Burgmausbîspels allein auf Boner; der zweite Herausgeber Karl Goedeke (1854: 635f.) stellt seinem Abdruck eine Anzahl von lateinischen und deutschen Belegen für die Stadtmausfabel voran. Und auch Ludwig Kohler (1909: XIVf.), der damit die große Variationsbreite der Fabel von der Stadt‑ und Feldmaus dokumentieren wollte, druckte das Tierbîspel in seiner Sammlung mit ab. Ich möchte jedoch deutlich machen, daß es sich um zwei verschiedene Geschichten handelt, nämlich zum einen um die mittelhoch‑ bzw. mittelniederdeutsche Übertragung der aesopischen Fabel von der Stadt‑ und Feldmaus und zum anderen um die mittelalterliche umarbeitende Neudichtung eines Tierbîspels mit gewandeltem ständedidaktischen Sinn, das von einer Burg‑ und einer Feldmaus handelt.
Hugo von Trimberg spielt in seinem moralischen Lehrgedicht Der Renner auf eine der beiden Fabeln an und bezeichnet ihre uns interessierende Protagonistin noch um 1300 als burcmûs: Daz selbe lêrt diu veltmûs, / Diu die burcmûs bat ze hûs.[13] Diese Formulierung für sich genommen ist doppeldeutig, da nicht klar ist, welche Maus Gastgeberin und welche Gast ist. Vielleicht aus diesem Grund scheinen Grubmüller/Dicke (1987: 620) davon auszugehen, daß sich Hugo von Trimberg auf das Tierbîspel aus dem Wiener Fabelcorpus bezieht. Doch aus dem Sinnzusammenhang des Abschnittes im Renner sowie durch die Überschrift in einer der Renner-Handschriften[14] wird deutlich, daß Hugo auf dieselbe alte aesopische Fabel anspielen muß, die später Ulrich Boner in die erste überlieferte deutsche Fabelsammlung „Der Edelstein“ (Benecke 1816: 48-51) aufgenommen und mit der Einführung der statmûs offenbar dem aktuellen Sprachstand angepaßt hat.
In dieser durch Boner aus dem Lateinischen ins Mittelhochdeutsche übertragenen Fabel Von einer veltmus und einer statmus lädt zunächst eine arme Feldmaus eine Stadtmaus, die gerade bei ihr vorbeigekommen ist, in ihr hûs und bietet ihr freundlich und freigiebig ihre kärgliche Speise zum Mahle: „Ein frolich antlitz si ir bot, / Und sprach: „Wir sullen ane not / Essen was wir gutes hain“. Auf den darauf folgenden Lehrsatz aus dem ersten Teil der Fabel, nach dem die Freundlichkeit der Bewirtung die Geringfügigkeit des Aufgetragenen ausgleicht (V. 49), bezieht sich Hugo von Trimberg: „Wa diu wirtschaft ist ze klain, / Die machet groz der wille guot“.
Die liebenswürdige Feldmaus bietet dabei Hugo von Trimberg das positive Gegenbeispiel zu der zuvor (V. 5387-5410) von ihm erzählten Fabel vom Fuchs und vom Storch. Hier lädt der Fuchs den Storch ein, bei ihm zu speisen, bietet ihm dann aber ein auf einem Stein ausgebreitetes Mus, das nur er selbst ablecken kann, während der Storch mit seinem Schnabel keine Möglichkeit hat, etwas davon zu essen. Der Storch rächt sich an dem Fuchs, indem er diesem bei seiner Gegeneinladung ein hohes enges Glas vorsetzt, aus dem nur er mit seinem langen Schnabel essen kann. Hugo möchte mit diesem Beispiel geizige Leute tadeln, die „Die geste gar übel pflegent hiute / Und die mit boeser kündigkeit / Bedecken wölln ir swindigkeit“. Daß er damit nicht etwa arme, fromme Leute anprangern möchte, stellt er im Folgenden mit dem Beispiel der braven Mäuse klar (V. 5416ff.). Wie in der Fabel vom Fuchs und vom Storch gibt es auch in der Mäusefabel eine Gegeneinladung, auf die Hugo von Trimberg in seinem Zusammenhang allerdings nicht einzugehen braucht:
Boners veltmûs wird nämlich (entsprechend der aesopischen Vorlage), nachdem sie sich der anderen Maus gegenüber so freundlich erwiesen hat, im weiteren Verlauf der Handlung von der statmûs in ihr Haus in der Stadt eingeladen und erkennt dort in einem Vorratskeller, daß die Gefahren des städtischen Lebens – hier in Gestalt eines Koches, der versucht, sie zu zertreten – für sie das übergroße Nahrungsangebot in Form von visch und fleisches vil sowie von brot, ziger (= Quark) unde kese guot nicht aufwiegen. Während nämlich die heimsche mus vil balde floch, schon als sie nur das Rasseln des Schlüssels im Schloß vernommen hatte und ir trut gespielen einfach stehen ließ, versuchte sich die Feldmaus durch Hakenschlagen vor dem nach ihr tretenden Koch zu retten („Nu floch si hin, nu floch si har“). Nur weil dieser schließlich „must … us dem keller gan“, kann sie ihr Leben retten. Dieser Vorfall „Diu fremde mus vil ser verdros“. Die aus ihrem Versteck wieder hervorgekommene Stadtmaus kann sie nicht dazu ermuntern, sich nun mit ihr über den Keller herzumachen, der sueßer spise vol sei: „Si sprach: ‘Und kom ich nu hin us, / Ich woeld ein bonen lieber nagen, / Den ich die vorchte woelde tragen, / Dur diner spise sueßekeit, / Die mit der gallen bitterkeit / Vermischet ist. Die hab du dir!’“. Sie beschließt also, weiterhin glücklich in Armut „ûf dem acker“ zu leben: „Ich wil us uf den acker gan, / Und wil in armuot froelich leben“. Es folgt ein Epimythion, in dem die Armut, die „ane sorge gar“ sei, den Sorgen des Reichtums vorgezogen wird: „Der arm ist sicher ze aller stunt“. Diese affirmative Aussage diente zum einen sehr deutlich dazu, die Genügsamkeit der ‘Armen’ zu befördern, andererseits richtete sie sich sicherlich auch gegen Versuche, durch eine Landflucht der grundherrlichen Unfreiheit zu entkommen.
Da die aesopische Fabel, auf die Hugo von Trimberg sich bezieht, traditionell vom – wie auch immer zu definierenden – Gegensatz zwischen Stadt und Land[15] lebt und später auch von Boner entsprechend aktualisiert wurde, ist es also naheliegend, Hugos burcmus[16] zur Gattung (oder eher Unterart?[17]) der ‘Stadtmäuse’ zu rechnen.
Es gibt jedoch auch eine mittelalterliche Maus, die in Abwandlung der aesopischen Fabel offenbar als ‘Burgmaus’ im heutigen Sinne aufgefaßt worden ist: Im oben vorgestellten Wiener Fabelcorpus wird nämlich von einer mûs, wenig später als burcmûs (V. 24) bezeichnet, erzählt, die sich in kemnâten, / in kasten unt in hûsen[18] bestens auskennt („ob anderen mûsen / was si gar ein meisterin“). Ihre Einfältigkeit (ir tumber sin) verleitet die „mûse von dem hûse“ (V. 12) dazu, „für die porten“ zu streichen. Dort läuft ihr eine arme, in nôt befindliche veltmûs über den Weg, die sich ihr vor die Füße wirft und von der sie gefragt wird, was sie denn esse. Sie antwortet bereitwillig „‘ich izze kaese unt brôt, / vleisch unde vische / hân ich ze mînem tische, / dar zuo mêt unde wîn, / môraz [= Maulbeerwein] muoz ouch mîn trinken sîn…’“. Dieses Nahrungsangebot scheint sich auf die wohl etwas füllige Figur der burcmûs ausgewirkt zu haben, denn die veltmûs, die gern einmal den Reichtum der burcmûs sehen will, bemerkt zu dieser Aufzählung: „daz sich ich“ („das sehe ich“). Vielleicht hatte allein dieser Umstand die hungernde Maus zu ihrer Frage bewogen; sie wird nun von der burcmûs „zuo ir hûsen“ geladen. Im Gegensatz zur aesopischen Feldmaus findet sich die veltmûs dieses Tierbîspels in der neuen Umgebung so gut zurecht, daß sie ihre Verwandten herbeiruft, denn „si wolde daz hûs hân besezzen“. Erwartungsgemäß reut es nun die burcmûs, „daz si von ir triuwen / alsô verstôzen solde sîn“, und als die Feldmaus ihr gesteht, sie wolle „hie vrouwe wesen“, verweist sie sie an die ihr unbekannte Katze, die sie ihr als den „bâbest von dem hûs“ vorstellt und den sie fragen solle, ob er damit einverstanden sei. Natürlich versucht der bâbest die Maus zu fangen, und als ir mâge sehen, wie ihre Genossin ihm gerade noch entkommt, räumen sie das Haus: „do besaz ez aber diu burcmûs“. Das Epimythion lehrt, mit Freigebigkeit gegenüber tôren vorsichtig zu sein, da man sie auf diese Weise aufwertet und riskiert, von ihnen übertrumpft und verdrängt zu werden.
Aus dem bloßen Wortlaut ist hier, wie oft in diesen Fällen, kaum auf die Bedeutung des Wortes burc im Namen der Maus (V. 26; 56) und im Namen von ihren Mitbewohnerinnen, den andern burcmûsen (V. 26), zu schließen. Fest steht jedoch, daß das Wort stat in der Geschichte nicht vorkommt, und daß mit dem hûs (V. 50; 69 u.ö.), das hier Schauplatz der Handlung ist, sehr gut auch eine Burg gemeint sein kann. Nicht nur der ‚Stadt‘-Wortgebrauch der übrigen bîspel der Wiener Handschrift, wo für ‘Stadt’ stat und für ‘Burg’ burc steht,[19] sondern auch und vor allem der intentionale Kontext, in dem sich diese Fabel eines unbekannten Autors zusammen mit den anderen Tierbîspeln in der Wiener Handschrift befindet, spricht eindeutig dafür, in dieser burcmûs die Herrin oder Bewohnerin einer Burg zu sehen. Die Aussage der so gesehenen Burgmaus/Feldmaus-Geschichte ist dieselbe, wie die vieler Fabeln des Strickers, mit denen er die Angehörigen des Klein‑ und Niederadels vor Aufsteigern aus dem bäuerlichen Bereich warnt.[20] Die meisten dieser Tierbîspel haben keine Entsprechung in der lateinischen Fabelliteratur.
Unserer Mäusefabel sehr ähnlich ist z.B. die Strickersche Fabel „Der Hofhund und die Jagdhunde“: Auch hier fällt der Hofhund den edlen Jagdhunden, Bewohnern einer Burg, zunächst zu Füßen (vgl. entsprechend V. 48ff.: „dô vil ze füezen / diu vil arme veltmûs / diser mûse von dem hûs“), um schließlich wie die Feldmaus (V. 78 „‘…ich wil hier vrouwe wesen’“) einen herrschaftlichen Platz einzunehmen. Nicht nur der (auch als Anrede gebrauchte) Begriff vrouwe verweist hierbei auf den höfischen Kontext, auch die Aufzählung der Getränke, die sich die burcmûs gönnt, ist vom Autor der Geschichte zu den Speisen, die er in der alten Fabel vorgefunden hat, dazu erfunden worden: met, wein und moraz tragen ein höfisches Gepräge. Demgegenüber bot es sich für die Übertragung der aesopischen Fabel ins Mittelniederdeutsche offenbar an, die jeweils gastgebende Maus in städtisch-bürgerlicher Weise als hûsvrouwe[21] zu bezeichnen.
Da es keine lateinische Entsprechung für die zweite, eben behandelte burcmûs-Fabel gibt, ist anzunehmen, daß sie originär, aber auf Grundlage des zweiten Teils der alten Gastgebergeschichte im Hochmittelalter gedichtet worden ist. Der erste Teil der aesopischen Fabel, in dem die Feldmaus die Stadtmaus großmütig und liebenswürdig bewirtet, wurde fortgelassen. Dafür wurde die Feldmaus zu einem kriecherischen und dummdreisten Emporkömmling umstilisiert, während die gastgebende Maus für ihre Naivität, durch die sie beinahe ihre soziale Stellung eingebüßt hätte, getadelt wird.
Sehr wahrscheinlich hat der anonyme Autor eine Vorlage bzw. eine mündliche Überlieferung benutzt, in der burcmûs eigentlich für ‘Stadtmaus’ stand, denn als solche ist diese Mäusegattung seit Aesop ja überliefert worden. Für seine Zwecke widmete er die Maus um bzw. (miß‑)verstand sie im ‘moderneren’ Sinne als Bewohnerin einer Herrenburg. Dem anonymen Autoren dieser Erzählung ging es offenbar – wie Boner – um Stimmigkeit, doch veränderte er deswegen nicht den eigentlich veralteten Namen der Heldin, sondern stellte sie stattdessen in einen anderen Kontext.[22]
Ulrich Boner, der zwischen 1324 und 1350 in Bern nachweisbar ist, verwendet also in seiner Wiedergabe der aesopischen Fabel für mus urbanus das moderne Wort statmûs. Hugo von Trimberg jedoch, der seit 1260 als magister und rector scolarum an der Stiftsschule von St. Gangolf in Bamberg tätig war,[23] bezeichnet, wie wir sahen, die Stadtmaus noch als burcmûs, zu einem Zeitpunkt, als sich im allgemeinen Sprachgebrauch dieser Landschaft für ‘Stadt’ das Wort stat längst durchgesetzt hatte.
Es ist bekannt, daß Hugo von Trimberg, wie es nach antikem Vorbild üblich war, für seinen Schulunterricht auch Fabeln verwendete: „An ihr [der Fabel] lernte man schreiben, lesen, übersetzen und reden“ (Seemann 1923: 19). Die erste (freilich fruchtlose) mittelalterliche Kritik an dieser Praxis durch einen Geistlichen namens Otloh (‘Liber de tentationibus’) stammt bereits aus dem 11. Jahrhundert; so wurden die Schüler der Klosterschulen „schon in jungen Jahren mit einer Menge von Fabeln vertraut, die fast sämtlich auf den Romulus und Avian zurückgingen“ (Seemann 1923: 20). Die lateinischen Fabelsammlungen, die Hugo von Trimberg für seinen Unterricht verwendete, sind aus seinem Registrum multorum autorum[24], einer Aufzählung, Schilderung und Beurteilung der in der Schule gelesenen Autoren, bekannt. Demnach benutzte er, wie auch Seemann nachweisen konnte, hauptsächlich den Esopus des Anonymus Neveleti. In ihm ist auch unsere mus urbanus‑ und mus agrarius-Fabel überliefert (Hervieux 1894: 2, 199). Hugo von Trimberg kannte diese Fabel also in ihrer lateinischen Fassung, was indessen nicht für alle Fabeln, die er zitiert oder nacherzählt, zutrifft, denn einige wenige hat er wohl, wie andere Geschichten im Renner und im Solsequium, „nach mündlicher Erzählung niedergeschrieben“ (Seemann 1923: 21). Sollte Hugo von Trimberg also im Gedanken an die lateinische Fabel die mus urbanus noch ad hoc als burcmûs übersetzt haben? Diese Möglichkeit, nach dem Durchdringen des Simplexes stat, scheint mir ausschließbar. Wahrscheinlicher erscheint mir, daß er mit der Bezeichnung der Titelfigur auf eine schon bekannte deutschsprachige Version zurückgriff. Schon sehr früh, bei den Übersetzungsübungen der Klosterschüler aus dem Lateinischen (s. oben Otlohs Kritik) muß die spätere Stadtmaus auf ihren mittelhochdeutschen Namen burcmûs getauft worden sein. Als solche ging sie offenbar in die volkssprachlichen Predigten ein, durch die die aesopischen Fabeln weithin bekannt wurden. Die Fabeln dienten hier, wie andere Beispielerzählungen auch, zur Illustration moralischer und religiöser Lehrsätze. Für die deutsch‑ und damit volkssprachigen Fabeln trifft sicherlich die Ansicht Seemanns zu, nach der „sich mit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis zum Erscheinen des Steinhöwelschen Aesops und dem Einsetzen der Übersetzungs‑ und Bearbeitungstätigkeit der Humanisten der Schwerpunkt der Entwickelung und des Lebens der Tierfabel immer weiter nach der Seite mündlicher Überlieferung hin“ schiebt (Seemann 1923: 21f.). Es ist also davon auszugehen, daß viele der Fabeln in die Mündlichkeit gelangt sind und einem größeren Publikum bekannt waren: Hugo spielt auf „diu veltmûs, diu die burcmûs bat ze hûs“ lediglich an, setzt also eine bekannte Geschichte mit offenbar bekanntem Vokabular voraus! Unsere burcmûs galt also wohl in Bamberg (zumindest unter den älteren Leuten[25]) um 1300 noch immer als ‘Stadtmaus’.
Es gibt jedenfalls um 1300 noch keinen Beleg für eine Modernisierung dieses Mäusenamens. Diese bezeugt erst Ulrich Boner um 1350. Es scheint so am ehesten denkbar, daß sich im allgemeinen Sprachgebrauch die burcmûs als Kompositium bruchlos im Sinne von ‘Stadtmaus’ erhalten konnte, wie sich ja auch andere Komposita wie burcmûre und burcgraben (s.o.) länger halten konnten.
Etwa 50 Jahre bevor Hugo von Trimberg mit dem im Grunde altertümlichen Begriff burcmûs auf die Fabel von der Stadtmaus und der Feldmaus anspielte, wurde dem oben behandelten bîspel zufolge in Österreich aber schon eine echte ‘Burgmaus’ erfunden bzw. aus dem sprachlichen Mißverständnis geboren. Es spielt dabei gewiß eine Rolle, daß diese Fabel im Umfeld des Landadels angesiedelt war, und daß die Städter – entsprechend dem Ordo‑ und Ständegedanken -, wie aus anderen Beispielen (z.B. „Der Esel in der Fremde“) zu ersehen ist, als lächerlich zu machende Konkurrenten angesehen werden. Von der Stadt und insbesondere dem Kaufmannsgeschäft hat sich nach der herrschenden Ordnung ein Adliger fernzuhalten (vgl. die Fabel „Der verflogene Falke“), auch wenn die Wirklichkeit wohl zumeist anders aussah.[26] Aufgrund der Tatsache, daß sich die Bedeutung des Wortes burc inzwischen auf die Herrenburg, die den Lebensraum sehr vieler Kleinadliger und Ministerialer in Niederösterreich bildete, verengt hatte, ist es verständlich, daß sich ein zeitgenössischer Dichter des 13. Jahrhunderts aus diesem Umfeld unter einer burcmûs (schon) eine ‘Burgmaus’ vorstellte, eine Maus also, die in der Herrenburg zuhause ist.
Dem in Bamberg lebenden Hugo von Trimberg hingegen war diese ständische Zuordnung nicht selbstverständlich; er erwähnt das Tier unter seinem alten ‘Namen’ in der alten Bedeutung und bietet uns somit ein Zeugnis für das recht hohe Alter dieser Fabel auch in der deutschen Sprache. Darüber hinaus zeigt dieses Beispiel, wie beharrlich offenbar die mündliche Überlieferung alte Wortformen bewahrt. Erst Ulrich Boner aus Bern paßte den Namen der Maus dem neuen Sprachgebrauch an, als er die Fabel erneut aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte. Damit wird offenbar, daß auch im städtischen Umfeld seiner Kenntnis die alte, noch lange als stadtbezogen verstandene Bezeichung burcmûs inzwischen durch das neue Kompositum statmûs/Stadtmaus ersetzt worden war – daß also mithin eine burcmûs um 1350 in Bern nicht mehr als ‘Stadtmaus’ verstanden werden konnte.
Wie sehr auch heute noch die Schicksale von Stadt‑ und Feldmaus bzw. Landmaus die Gemüter bewegen, zeigt Robert Gernhardt in seinem Cartoon-Gedicht ‚Landmaus und Stadtmaus‘[27] (das hier leider nur ohne Bild wiedergegeben werden kann):
Die Landmaus sprach zur Stadtmaus:
„Das sieht verteufelt glatt aus!“
Da sprach die Stadtmaus: „Landmaus,
dann rück mal’n bißchen Sand raus!“
Man könnte über die Mentalität dieser modernen Mäuse spekulieren,[28] wenn sich nicht der Verdacht aufdrängte, daß sie ihre jeweiligen Aussagen nur dem jeweiligen Reimzwang auf ihre Namen verdanken – so wie schon Morgensterns raffiniertes ‚Wiesel im Bachgeriesel‘ alles nur dem Reim zuliebe tat.
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Seemann, Erich (1923): Hugo von Trimberg und die Fabeln seines Renners. Eine Untersuchung zur Geschichte der Tierfabel im Mittelalter. München.
Wilhelm, Friedrich (1914): Ältere Urkunden in deutscher Sprache (Münchner Texte, Heft 4), Abt. A (Oberdeutschland), Nr. VI, Nordbayr. Urkunden; dass. Nr. III, Schwäbische Urkunden; Abt. B (Mitteldeutschland), Nr. I, Rheinfränkische Urkunden.
Fußnoten:
[1] Zum Beispiel burcmure V. 2190 im Servatius. Im Servatius findet sich zusätzlich der stat muren (V. 3302). Die Begriffe burchgrauen oder burchmure finden sich auch im Karl Meinet (ca. 1250), der ansonsten burc und stat unterscheidet. Ebenso findet sich burcporte bei Gotfrid Hagen, Reimchronik der Stadt Köln (V. 2715), der sonst durchweg stat verwendet. Vgl. diese Angaben bei Pfütze 1958: 282 u. 299 sowie ebda. die Tabelle 319.
[2] Lexer, Bd. I, Sp. 391. Die Belegstelle findet sich in: Zeitschrift für Deutsches Altertum, hrsg. v. M. Haupt, Leipzig u. Berlin 1841-71, Bd. 3, S. 444.
[3] Im Frühmittelalter wird civis mit burgliut, burgare und gebur übersetzt. Siehe dazu Köbler 1972: 10f. Siehe auch Schlesinger 1963: 106.
[4] Siehe dazu u.a. K. Kroeschell in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1964, Art. ‚Bürger‘, Sp. 5543-553 und M. Riedel, in: Geschichtliche Grundbegriffe 1, 1979, Art. ‚Bürger, Staatsbürger, Bürgertum‘, 672-725. Dort auch weitere Literaturangaben. Außerdem jüngst Metzner 1999a: 11f.
[5] Das Tierbîspel, in dem menschlich denkende, handelnde und redende Tiere auftreten, ist eine literaturwissenschaftliche Sonderform des Bîspels. Die antike Fabel fand im Mittelalter Eingang in diese „in Reimpaarversen abgefaßte zweiteilige Form von beschränktem Umfang, die in Erzählung oder Bericht Illustrationsmaterial vorführt, das im anschließenden Auslegungsteil gedeutet wird“. LM, Bd. II, Art. ‘Bîspel’, 248. Die wichtigsten Definitionen, gattungsspezifischen Streitfragen und Literaturhinweise finden sich bei: de Boor 1966; Grubmüller 1977; Kosak 1977; Schwab 1983, VII-XXVII.
[6] Dies besonders bei den ROMULUS-Versionen, ed.: Hervieux 1884-1899.
[7] Codex Wissemburgensis, ed.: Hervieux 2II, Phaedrianae fabulae, Nr. II.1, 165.
[8] Gualterianae fabulae, Nr. 11, ed.: Hervieux 2II, 386.
[9] So bei Odo von Cheriton, Liber parabolarum, Nr. 16, ed.: Hervieux IV, 190f.
[10] Die Fabel Van twên musen erzählt von einer mûs „ût enem dorpe … / gevôt an einem riken hûs“ und einer veltmûs. Inhaltlich entspricht sie ansonsten der Fabel von der Stadt‑ und Feldmaus (s.u.). Abdruck bei: Seelmann 1878: 15ff.
[11] Vgl. die Angaben zu den zahlreichen Versionen der ‘Stadtmaus und Feldmaus’-Fabel bei: Grubmüller/Dicke 1987: 617-622 (Nr. 541). Ein vergleichender Abdruck der deutschen Versionen und Textstellen findet sich bei Kohler 1909. Für die Beschaffung dieses Textes, der in deutschen Bibliotheken offenbar nicht mehr zu finden ist, danke ich Frau Dr. Libuše Spácilová (Olmütz) und Herrn Prof. Dr. Václav Bok (Budweis), die so freundlich waren, mir eine Kopie aus Olmütz zu besorgen.
[12] „Burgmaus und Feldmaus“, ed.: Grimm 1816: 3, 184-187, sowie bei Goedeke 1854: 635f.. Zur Wiener Handschrift siehe: Menhardt 1960. In der zweiten wichtigen Stricker-Handschrift aus Heidelberg (Cpg. 341) fehlt die burcmûs-Fabel. Vgl. zur Überlieferung und zur Anordnung innerhalb der Handschriften: Glier 1987: 20-33 u. 60ff. und bes. Mihm 1967, dort auch weiterführende Literatur zu den Handschriften.
[13] Ehrismann 1970: 226 (V. 5431f.). Das moralische Lehrgedicht Der Renner ist mit rund 25.000 Versen die umfangreichste deutsche Lehrdichtung des Mittelalters. Sie behandelt die sieben Hauptsünden in der Reihenfolge Hoffart, Habsucht, Wollust, Völlerei, Zorn, Neid und Trägheit. Das Werk wurde nach eigener Angabe i.J. 1300 vollendet, jedoch anschließend mehrfach ergänzt. Siehe u.a. KLL, 1986, Bd. 10, Sp. 8118f.
[14] Hs. a: „Ein merlein wie die velt mauß Zu hause lud die burg mauß“. Vgl. die Angaben bei Ehrismann 1970: 226.
[15] Es ist interessant, daß der Terminus ‚Landmaus‘ den Terminus ‚Feldmaus‘ erst vergleichsweise spät abgelöst hat, nachdem die ‚Stadtmaus‘ ins Spiel gekommen war und das neue Gegensatzpaar ‚Stadt‘ – ‚Land‘ mitgedacht wurde.
[16] Auch im Lexer (Bd. 1, Sp. 392) wird der burcmûs-Beleg aus dem ‘Renner’ mit „stadtmaus“ übersetzt.
[17] Es scheint in der Biologie strittig zu sein, wie genau die Formen der Gattung ‘Mus’ und ihre Arten einzuteilen sind. Fest steht aber offenbar, daß nur eine Art sich zur reinen ‘Hausmaus’ entwickelt hat, nämlich die von der Baktrischen Maus abstammende Mus musculus domesticus (Westliche Hausmaus). Sie hat die Praxis der eigenen Vorratshaltung vollständig aufgegeben und sich am Nahrungsgewinn des Menschen beteiligt (sog. kommensale Form); damit hätten wir unsere ‘Stadt‑’ oder ‘Hausmaus’ auch in der Wirklichkeit lokalisiert. Schwieriger ist es, die veltmus zu identifizieren. Es gibt hier zum einen die von der Ährenmaus (Mus musculus spicilegus) abstammende Nördliche Hausmaus (Mus musculus musculus), die sich zeitweilig (je nach Witterung) in menschliche Nähe begibt. Unsere Feldmaus aus der Fabel scheint jedoch eher der Gattung Apodemus anzugehören und eine Feld‑Waldmaus (Apodemus sylvaticus) oder Gelbhalsmaus zu sein. Beide legen Vorräte an. Letztere lebt gerne in Waldnähe, erstere eher auf Feldern oder ‘Kultursteppen’. Entsprechend schwankt ihr Aufenthaltsort sowohl in den lateinischen als auch in den deutschen Fabeln zwischen Wald und Feld. In Herbst und Winter versuchen auch diese Mäuse sich in Häuser (in Waldnähe) einzuschleichen. Die Mäuse der Fabel sind also der biologischen Wirklichkeit nachgebildet. (Siehe Piechocki 1968: 358-363.)
[18] Dieser Plural sollte nicht irritieren, denn auch in Burgen standen bekanntlich zumeist mehrere Gebäude; sie alle werden offenbar von dieser burcmûs beherrscht. Im Folgenden (V. 12 u.ö.) wird deutlich, daß das Singular hûs hingegen die eigentliche Heimat der Maus ist, hier also die ‘Burg’ bezeichnet.
[19] Die auf unsere ‚Fabel‘ folgende Strickersche Erzählung vom „Esel in der Fremde“ ist für den durchgängigen Gebrauch des Simplexes stat ein sehr deutliches Beispiel. Doch auch hier wird das Stadttor noch als burctor bezeichnet. Schwab 1983: 64-69 (Der Esel). Siehe dort stat: V. 24, 105 u.ö., burgtor: V. 91, burctor: V. 110. Ein Beispiel für die Bezeichnung der Herrenburg als burc bietet die Fabel „Hofhund und Jagdhunde“, Schwab 1983: 57-60, V. 9 (u.ö.).
[20] Vgl. Fischer 1968: 148 und Grubmüller 1977: bes. 183-213 „Lehrinhalte: Herrschaftsbestätigung“ und zur Situierung der Adressaten „Arm und reich“ 213-228. Siehe dazu auch Rühl 1992.
[21] Vgl. Wolfenbüttler und Magdeburger Fabelsammlung in: Gerhard von Minden, hg. W. Seelmann, Bremen 1878, S. 15ff., X, V. 19; 70 u.ö.
[22] Ähnlich verfuhren die Dichter des ‚Herzog Ernst D‘ und des ‚Liedes vom Herzog Ernst G‘, die beide aus der Phantasiestadt bzw. der burc Grippia ihrer Vorlagen eine Burg machten (siehe dazu ausführlich in meiner vor dem Abschluß stehenden Frankfurter Dissertation „‘burc‘ und ‚stat‘ in den frühen Herzog-Ernst-Dichtungen. Studien zu Datierung, Lokalisierung und Interpretation vor dem Hintergrund des mittelhochdeutschen ‚Stadt‘-Wortschatzes“).
[23] Vgl. u.a. Th. Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, München 1990: 112.
[24] Hg. v. Huemer in den Wiener Sitzungsber. phil. hist. Kl. 1888, 145ff. (vgl. diese Angabe bei Seemann 1923: 9).
[25] Hugo von Trimberg war zur Zeit der Abfassung des Renner über 70 Jahre alt. Es ist denkbar, daß er eine eventuell zusätzlich vorhandene aber nicht belegbare modernere Maus-Bezeichnung ignoriert hat.
[26] Siehe zur Unmöglichkeit einer scharfen Grenzziehung zwischen Stadtpatriziat und Landadel: Schnell 1978: 39ff. und grundlegend: Peters 1977: 109-123.
[27] In: Wörtersee, Frankfurt a.M. 1981, S. 238f. Den freundlichen Hinweis verdanke ich Dr. Martin Schubert (Hürth).
[28] Zum Beispiel besteht Deutungsbedarf darüber, ob die Landmaus, die zuvor mit dem Sandeimer in der Hand ihre altkluge Bemerkung abgegeben hat, berechtigterweise von der gestürzten Stadtmaus zurecht gewiesen wird, wobei sie ziemlich dumm aussieht (dies würde eine urbanisierte Sicht auf die beiden Mäuse intendieren), oder ob nicht vielmehr die rüde Städterin gegenüber der liebenswürdig-naiven Landmaus entlarvt werden sollte.
Erschienen unter dem Namen Jasmin Schahram Rühl in: Regionalsprachen, Stadtsprachen und Institutionssprachen im historischen Prozess, hrsg. v. Michael Elmentaler (Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft), Wien 2000, S. 27-41.