Warum lächelt der blaue Tiger? – Wir holen etwas aus, um diese Frage (nicht) zu beantworten!
„Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ von Neil MacGregor ist ein wunderbares Buch. Es ging hervor aus einer Radioserie der BBC, in der MacGregor einzelne Objekte des British Museum vorstellte und er tat das so geschickt, dass man tatsächlich alle historischen Epochen der Welt und Menschheit in den Blick bekam, immer in Form lebendiger Geschichten. Die stecken nämlich tatsächlich in allem drin. Meist braucht man aber Menschen, die sie sozusagen herausholen können!
Und man braucht die Dinge, um die es geht, die Kunst: Nach unserer letzten Zählung hat der Kunstgewerbeverein in Frankfurt am Main e.V. (ohne die Japanischen Farbholzschnitte) 666 Objekte im Eigentum. Dieser blaue Teller ist die Nummer eins!
1921 ging das heutige Museum Angewandte Kunst mit seinem gesamten Inhalt vom Verein an die Stadt Frankfurt. Aber die Sache war noch nicht über die Bühne, da erwarb der Verein schon wieder ein Stück. Und das ist dieser Teller mit der Inventarnummer 1:
Er ist sehr groß, er hat einen Durchmesser von 45 Zentimetern und mit seinem Standring eine Höhe von 9 cm. Er wurde erworben aus dem Vermächtnis des Ehepaares Ignatz und Anna Sichel. Über die beiden weiß ich nichts, außer, dass sie auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt begraben sind und damit Zeugnis ablegen von den vielen Sammlern und Kunstfreunden Frankfurts, die 15 Jahre später das Land verlassen mußten oder ermordet wurden.
Der Teller besteht aus einem weißen Scherben mit einer farblosen Glasur und einer Bemalung in Blau mit feinen schwarzen Umrißlinien. Er ist dreigeteilt: Im Zentrum befindet sich eine Raubkatze und blickt den Betrachter an.
Kreisförmig um das Tier herum liegen Lotusblumen und flammenartige Blätter. Das Mittelfeld wird abgeschlossen von einem mit Wellenranken gefüllten schmalen Streifen. Die Wandung zeigt eine große Wellenranke mit Lotusblüten und den Abschluss bildet ein schmaler Streifen mit dichten Arabesken.
Auf der Rückseite befindet sich in der Mitte eine schwarze Strichmarke, die aussieht, als wäre sie chinesisch. Aber sie hat die Kunsthistoriker nicht täuschen können: Dieser Teller stammt aus dem heutigen Iran, wahrscheinlich aus der Gegend um Mesched und er wird auf 1600 datiert. 1600 markiert die Halbzeit der Safawiden, jener Fürstendynastie, die von 1501-1722 Persien regierte und den schiitischen Islam als Staatsreligion etablierte. Unter den Safawiden entstand eine Art persisches „Nationalbewußtsein“.
Der blaue Teller ist also über 400 Jahre alt und allein das ist etwas, was berühren kann: Traurig genug, dass Menschen sterben müssen: Aber Dinge, die Menschen mit Anstrengung und Kunstfertigkeit geschaffen haben, in die sie Lebenszeit und Liebe gesteckt haben, können durch die Geschichte gerettet werden, wenn es genügend andere Menschen gibt, die darauf achten, dass sie nicht kaputt gehen. Das ist eine Art Menschenkette.
Die amerikanische Autorin Donna Tartt hat das in ihrem Roman „Der Distelfink“ einer Figur schön in den Mund gelegt: Solche Dinge können uns lehren, sagt diese, „dass wir über die Zeit hinweg miteinander sprechen können“. Es sei „herrlich … das zu lieben, was der Tod nicht anrührt.“ Und: jeder Mensch kann seine eigene Liebe der Geschichte anderer Menschen hinzufügen.
Interessant sind nun die vielen Fragen und Tatsachen, die sich anschließen und hier nur angedeutet werden können. Es ist ein faszinierendes kulturgeschichtliches Hin und Her:
– die blau-weiß Keramik ist im Vorderen Orient mindestens seit dem 9. Jahrhundert beliebt
– über Jahrhunderte hinweg gab es einen fruchtbaren Austausch künstlerischer Traditionen zwischen China und dem Nahen Osten
– den Geschmack der Chinesen traf das blau-weiß aber eigentlich nicht: Sie liebten es feiner, Ton in Ton, mit Relief- und Schattenwirkung
– die Chinesen produzierten jedoch bald für diesen Markt chinesisches blau-weiß und mochten es dann auch selbst
– durch den Ostasienhandel brachten die Portugiesen, Holländer und Engländer blau-weißes Porzellan nach Europa und weil dort die Begeisterung so groß war, entwickelten auch die europäischen Werkstätten blau-weiße Muster und Bilder: Delfter blau-weiß!
– von denen wurde vieles in den Orient exportiert…
– anfangs hatte sich die islamische Welt von den chinesischen Werken nur inspirieren lassen. Aber die Blauweiß-Porzellane der Yuan-Zeit (damals schon historisch und 100-150 Jahre alt), waren so begehrt in Persien, dass die heimischen Keramikmeister sie schließlich nachahmten.
– nun zur Frage, warum der blaue Tiger lächelt:
Vielleicht, weil es ihn gibt, obschon einige Strömungen des Islam keine Darstellungen lebendiger Kreaturen dulden (ähnlich den reformierten Protestanten…)
Vielleicht lächelt er aber auch, weil er gar nicht aussieht, wie ein chinesischer Tiger, obschon er eigentlich einer sein soll. Er ähnelt eher einem Leoparden, zart und schlank wie er ist. Dieses Tier ist Zeugnis der Anverwandlung einer anderen Welt in die eigene.
Das ganze Werk ist von herausragender handwerklicher Meisterschaft. Es kopiert zwar etwas altes Chinesisches, und doch sieht jeder, der sich auskennt sofort, dass die Lotusblumen in der Mitte wild, manieriert und züngelnd, anders sind und dass eben der Tiger keiner ist, dass dieses Kätzchen aus einer anderen schöpferischen Kultur stammt….
(Text Dr. Jasmin Behrouzi-Rühl)
Teller. Iran, Mesched, um 1600. Durchmesser 45 cm. Seit 1920 Leihgabe des Kunstgewerbevereins in Frankfurt am Main e.V. im Museum Angewandte Kunst. Sign. V. 1