Sommernovellette

Novelle von Stefan Zweig

Zuerst in: Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland (Insel), Leipzig 1911

„In keinem Alter schreibt man ungestraft feurige Briefe und träumt sich in die Gefühle einer Liebe hinein.“
Das erfahren wir aus Stefan Zweigs „Sommernovellette“. Sie führt uns in den Spätsommer nach Cadenabbia an den Comer See, wo wir am Ufer entlangspazierend, eine Geschichte hören, die eine Novelle werden könnte. Am Ende ist es eine: Doch die Hauptrolle hat nicht das junge Mädchen gespielt, sondern der alternde Mann selbst, der dem Ich-Erzähler seine Geschichte erzählt hat.

Die Erzählung endet in der Sommernacht auf den Stufen der Villa Carlotta.

villa-carlotta

„Und er ging mit seinen elastischen, aber doch von den Jahren schon verlangsamten Schritten ins Dunkel zurück. Es war schon spät. Aber die Müdigkeit, die sonst von der Wärme der weichen Nächte mich früh befing, war heute zerstreut durch die Erregung, die im Blute aufklingt, wenn einem Seltsames widerfährt oder wenn man Fremdes für einen Augenblick wie Eigenes erlebt. So ging ich den stilldunklen Weg entlang bis zur Villa Carlotta, die mit marmorner Treppe in den See niedersteigt, und setzte mich auf die kühlen Stufen. Wunderbar war die Nacht. Die Lichter von Bellagio, die früher nahe wie Leuchtkäfer zwischen den Bäumen funkelten, schienen nun unendlich ferne über dem Wasser, und langsam fielen sie, eins nach dem anderen, in das schwere Dunkel zurück. Schweigsam lag der See, blank wie ein schwarzer Edelstein und doch von wirrem Feuer an den Kanten. Und wie weiße Hände zu hellen Tasten, so griffen die plätschernden Wellen mit leisem Schwall die Stufen auf und nieder. Endlos hoch schien die bleiche Himmelsferne, aus der tausender Sterne Funkeln war. Ruhevoll, in blitzendem Schweigen standen sie: nur manchmal löste sich einer aus dem demantenen Reigen jäh los und stürzte in die Sommernacht hinein; hinein in das Dunkel, in Täler, Schluchten, Berge oder ferne Wasser, ahnungslos und von blinder Kraft geschleudert wie ein Leben in die jähe Tiefe unbekannter Geschicke.“

Welche Musik passt schöner zu diesem Ende als das erste Nocturne von Chopin?

 

(Das Bild der Villa Carlotta stammt von dieser Seite: http://www.destination360.com/europe/italy/lake-como/villa-carlotta)

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